Von kompliziert bis komplex

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Vor über 10 Jahren sprach mich auf einer Konferenz von Zukunftsforschern in Belgien ein freundlicher Mensch aus Helsinki an. Er wollte wissen, ob mein gerade veröffentlichtes Prognosemodell auch Emergenz, Nicht-Linearitäten und Ko-Evolution berücksichtigt. Damals wusste ich als neoklassisch ausgebildeter Volkswirt nicht, was er meinte. Dennoch lud er mich 2007 ein, einen Beitrag zu einem seiner Bücher zu verfassen. Heute ist die Komplexitätsanalyse – auf die sich Mika Aaltonen damals bezog – ein Kern meiner Arbeit. Gesellschaftliche Systeme sind immer komplexe Systeme und müssen anders angegangen werden als komplizierte Systeme wie z.B. Automotoren.

Den Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen hat David Snowden gemeinsam mit Mary Boone in einem Artikel für die Harvard Business Review leicht verständlich zusammengefasst:

In komplizierten Systemen, wie dem genannten Automotor, gibt es klare, wiederholbare Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen, auch wenn diese für Laien nicht leicht zu erkennen sind. Das ist die Welt von Experten, Ingenieuren, Prognosen und Gutachten, wie sie im Ingenieursland Deutschland weit verbreitet sind. Gefahren liegen in der Analyse-Paralyse (immer mehr Gutachten werden angefordert, keine Entscheidung getroffen) und der mangelnden Offenheit der etablierten Expertenstrukturen gegenüber neuen Ideen.

Komplexe Systeme – alles, wo Menschen involviert sind – verhalten sich anders. Hier sind die Entwicklungen oft nicht-linear, es gibt keine wiederholbaren Ursache-Wirkungszusammenhänge, Neues entsteht an unerwarteten Stellen (Emergenz), Prognosen sind unmöglich. Experten und Gutachten helfen hier nur begrenzt weiter. Wichtiger ist es, die Diskussion zu öffnen und konstruktive Irritationen zuzulassen. Kleine Experimente, die schief gehen können, bringen neue Impulse. Je nach Ergebnis wird entschieden, welche Experimente beendet und welche skaliert werden.

Mindestens zwei Bedingungen sind notwendig, um komplexe gesellschaftliche Systeme gut zu führen. Erstens braucht man eine Idee davon, was wünschenswert ist und was nicht. Sonst hat man keine Basis auf der man entscheiden kann, welche Entwicklungen gedämpft und welche verstärkt werden sollen. Visionen sind hier hilfreich, müssen aber flexibel gehandhabt werden. Zweitens sind klare Rahmenbedingungen und Grenzen notwendig, in denen sich die vielen Akteure eines komplexen Systems entfalten dürfen. Diese Anforderung entspricht auch den „allgemeinen Regeln“ von Friedrich August von Hayek, innerhalb derer sich eine „spontane Ordnung“ entwickeln kann. Mehr Details zu Hayek als Komplexitätsforscher folgen in künftigen Blogbeiträgen.

Der Ansatz der Lebensqualitätsprozesse des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt folgt den Empfehlungen der Komplexitätsanalyse. Mit vielen sehr unterschiedlichen Menschen wird über eine wünschenswerte Zukunft gesprochen. Dann werden die entstandenen Zukunftsbilder sichtbar gemacht und entsprechend gehandelt. Projekte wie „Schöne Aussichten – Forum für Frankfurt“ und „Gut leben in Deutschland“ oder der „Dialog über Deutschlands Zukunft“ gefallen auch den Komplexitätsforschern. Für Branchen und Unternehmen ist diese allgemeine Vorgehensweise ebenfalls anwendbar.