Deutschland lässt zu viele Kinder zurück
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Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, UNICEF, hat einen großen Bericht über das ungleich verteilte Wohlergehen von Kindern in reichen Ländern erstellt. Die vier Themenfelder sind aus anderen Indikatorenberichten zu Lebensqualität bekannt: Einkommen, Bildung, Gesundheit und Lebenszufriedenheit. Wie so oft in diesen Vergleichen stehen skandinavische Länder auch hier besonders gut da – mit der überraschenden Ausnahme von Schweden auf Platz 23 der 35 betrachteten Länder. Die Schweiz, Österreich und die Niederlande schneiden ebenfalls recht gut ab. Deutschland liegt auf Platz 14 insgesamt: Platz 2 im Bereich Gesundheit, Platz 12 im Einkommen des Elternhaushalts, aber nur Platz 28 im Bildungsniveau der 15-Jährigen und Platz 29 in der Lebenszufriedenheit.
Der besondere Verdienst von UNICEF ist – neben dem Fokus auf die Kinder – die Analyse der Verteilung des Wohlergehens. Das geschieht zu selten. Standard ist noch immer eine Analyse von Durchschnitten oder zumindest Medianen. Durchschnitte sind einfacher zu erstellen und zu verstehen. Sie sagen aber zu wenig über die Schwächsten aus. Berechnet wurde von UNICEF, wie groß der Abstand zwischen dem Kind in der Mitte der Verteilung (Median: 50% der Kinder geht es besser, 50% schlechter) zum zehnten Perzentil (90% geht es besser, 10% schlechter) ist.
So liegen zum Beispiel die PISA-Ergebnisse des zehnten Perzentils in Deutschland weit unter dem Medianwert – in schlechter Gesellschaft mit Schweden, Frankreich und Belgien. Besonders die Jungs liegen zurück. Unter den Ländern mit hoher Bildungsgerechtigkeit befinden sich die Balten, Polen und Dänemark. Die Lebenszufriedenheit der unteren Hälfte der Kinder liegt in Deutschland ebenfalls weiter unter dem Median, ähnlich wie in Belgien und Frankreich. 8,5% der deutschen Kinder wählen auf der Zufriedenheitsskala von 0 bis 10 nur Werte von 4 oder darunter. Lediglich in Belgien, Polen und der Türkei gibt es prozentual mehr unzufriedene Kinder. Gleichmäßig zufrieden sind dagegen die Kinder in den Niederlanden, Australien und (überraschend) in Griechenland.
Ungleichheit unter Erwachsenen mag gerechtfertigt sein, wenn sie unter fairen Bedingungen entstanden ist. Aber Kinder haben viel weniger Kontrolle über ihre Lebensbedingungen. Und aus der Bildungsforschung wissen wir, dass frühkindliche Bildung individuell und gesellschaftlich besonders wichtig ist. Daher sollten die Ergebnisse dieser aufwändigen Studie in Deutschland ernst genommen werden. Einmal mehr zeigt sich eine besondere Herausforderung im Bildungssystem. Dort hat sich seit 2006 zwar einiges verbessert, aber die Aufgabe bleibt groß.
Und wir sollten noch intensiver der Frage nachgehen, warum in Deutschland so viele Kinder und Jugendliche – darunter besonders viele Mädchen – mit ihrem Leben so unzufrieden sind. Welche Erwartungen haben sie an sich selbst, welche Erwartungen haben Eltern und Gesellschaft? (Dazu passt auch mein Post zu Sexismus in der Werbung.) Welche Fähigkeiten vermitteln wir ihnen, um mit diesen Erwartungen umzugehen? Im jüngsten Kinder und Jugendbericht der Bundesregierung wird gezeigt, „dass in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft kindliches Wohlbefinden im Sinne einer Befähigung von Kindern bislang kaum auftaucht. In keinem erziehungswissenschaftlichen Handbuch findet sich der Begriff“ (Seite 119). Traurig. UNICEF geht noch weiter und empfiehlt, dass Kinder in der Entwicklung von Maßen und Maßnahmen gehört werden sollten.