Menschliche Bedürfnisse und Digitalisierung

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Wenn über Chancen und Gefahren der Digitalisierung diskutiert wird, dann werden regelmäßig die Bedürfnissen der Menschen angesprochen. Mein Eindruck ist aber, dass die Einblicke aus der interdisziplinären Lebensqualitätsforschung noch nicht ausreichend berücksichtigt werden. Diese Forschung hat eine große Klarheit über menschliche Bedürfnisse gewonnen, die auch für Einschätzungen von Innovationen im digitalen Bereich hilfreich sein sollte.

Sieben menschliche Bedürfnisse sollen hier kurz skizziert werden. Die Reihenfolge gibt keine Hierarchie im Stile der Maslowschen Bedürfnispyramide an. Von einer solchen Hierarchie halte ich wenig: Alle Bedürfnisse sind wichtig und hängen eng miteinander zusammen. Die Reihenfolge soll vielmehr andeuten, wie einig sich die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen sind. Ich nutze dafür die Einblicke aus Soziologie (Etzioni), Philosophie (Nussbaum), Entwicklungsökonomie (Max-Neef), Psychologie (Epstein) und Hirnforschung (Rock).

  1. Zugehörigkeit oder auch Zuneigung, Zuwendungen, Freundschaften, Beziehungen. Dieses Bedürfnis beschreibt die horizontalen Beziehungen auf Augenhöhe zwischen uns sozialen Wesen. Das Schöne ist, dass Zugehörigkeit grundsätzlich grenzenlos verfügbar und vermehrbar ist – und in der Regel allen Beteiligten gut tut. Zugehörigkeit lässt uns entspannen und fördert die Kooperation innerhalb der Gruppe.
  2. Anerkennung – manche sagen auch Status – bezieht sich dagegen auf die vertikale Beziehung zwischen Menschen. Menschen möchten für das anerkannt werden, was sie speziell macht, was sie besonders gut können oder auch nur besonders viel besitzen. Dieser soziale Vergleich hat auch seine Schattenseiten, zum Beispiel ein zu intensiver Statuswettbewerb oder falsche Annahmen über den Status der Vergleichsperson (Das Gras ist immer auf der anderen Straßenseite grüner). Die schwierige Aufgabe besteht darin, Anerkennung zu erhalten ohne andere Menschen relativ zurückzusetzen.
  3. Orientierung beschreibt das Bedürfnis nach Stabilität, Sinn und Kontext. In einer immer komplexer werdenden Welt brauchen wir etwas, an dem wir uns festhalten können. Etwas, das uns dabei hilft neue Optionen und Informationen einzuordnen und so handlungsfähig zu bleiben. Ein persönlicher innerer Kompass gehört ebenso dazu wie allgemein akzeptierte gesellschaftliche Normen.
  4. Sicherheit bezieht sich auf das Umfeld in dem wir leben: Sind wir sicher vor anderen Menschen? Haben wir finanzielle Sicherheit im Alter? Wie steht es mit dem Arbeitsplatz? Bekommen wir eine medizinische Versorgung, wenn wir sie brauchen? Wenn wir uns sicher fühlen, dann ist es auch leichter anderen Menschen zu vertrauen. Unser Gehirn hat Kapazitäten frei für weitere Aktivitäten.
  5. Teilhabe oder Partizipation erleichtert das Verständnis von Zusammenhängen, macht die Vielfalt von Perspektiven sichtbar und fördert die gesellschaftliche Interaktion und Solidarität auch über die Grenzen von Gruppen hinweg. Teilhabe ermöglicht, dass gesellschaftliche Systeme die Bedürfnisse der Menschen erkennen und entsprechend reagieren können. Das ist eine große Aufgabe für Politik und Zivilgesellschaft auf allen Ebenen, bei der klug eingesetzte digitale Werkzeuge helfen können.
  6. Kreativität wird hier als Oberbegriff für vieles genutzt, wie Menschen gerne sind und was sie gerne tun. Menschen sind mutig, erfinderisch, passioniert, entschlossen usw.. Sie fühlen, reden, malen, tanzen, singen, schreiben, beten usw. Um diese Kreativität auszuleben, braucht es politische und künstlerische Freiheiten.
  7. Spaß umfasst viele Aktivitäten, die uns Menschen regelmäßig wichtig sind: feiern, spielen, lachen, entspannen usw. Aber auch die Kehrseite sollte beachtet werden: zu viel passive „Bespaßung“ und zu viele Belohnungen ohne nennenswerte eigene Aktivitäten können zu Aggressivität und Unzufriedenheit führen.

Die Digitalisierung bietet den Menschen neue Möglichkeiten, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Sie ist aber auch mit Risiken verbunden. Darüber wird im Dialogprozess #gutlebendigital zu reden sein. Wie können Zugehörigkeit, Anerkennung, Orientierung, Sicherheit, Teilhabe, Kreativität und Spaß für möglichst viele Menschen zunehmen? Die sieben Bedürfnisse bieten zudem eine klare Struktur für die Analyse digitaler Innovationen: Welche Bedürfnisse werden wie angesprochen? Welche Bedürfnisse kommen eventuell zu kurz?